Von Atari zu Ethik - ein Interview mit William Agnew

Ein humanioder Roboter hält einen Fächer auf dem "Gay AF" steht. Im Hintergrund ist ein Regebbogen aus Neonröhren
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Die meisten Erfolgsgeschichten beginnen mit zwei Tech-Bros in einer Garage. Queer in AI beginnt mit einer Gruppe von queeren Wissenschaftlern auf einer Konferenz. "NeurIPS 2017", sagt Willie, "ich war ein kleiner Doktorand im ersten Jahr meiner Promotion.” Wir telefonieren über Zoom und es ist 10 Uhr morgens auf seiner Seite und 19 Uhr auf meiner. Willie hat eine bevorstehende Deadline für eine Publikation und weiß nicht mehr, wie es ist, ausgeruht zu sein. Sobald der Artikel eingereicht ist, gibt es wieder 8 Stunden Schlaf, aber im Moment ist die Priorität, alles rechtzeitig fertig zu bekommen. Umso dankbarer bin ich, dass er die Zeit gefunden hat, mit mir über die Anfänge von Queer in AI zu sprechen. "Es gab die Whova-App", sagt er, "das ist wie ein Online-Forum. Ich habe einfach ein "Queer in NuerIPS"-Forum eingerichtet, und die Leute haben angefangen zu posten und sich vorzustellen. Eduardo veranstaltete ein kleines Kaffeetreffen. Und wir sagten uns: Wir müssen mehr machen! Das hier ist so toll, das ist so wunderbar!"

Das erste Treffen auf der NeurIPS wurde zu einem Kristallisationspunkt. Die Zeit zwischen NeurIPS 2017 und Neurips 2018 verbrachte Willie mit Kollaboration: E-Mails schreiben, sich treffen und an Dokumenten arbeiten. Einerseits um zukünftige Aktivitäten zu planen, andererseits um festzulegen, welche Form Queer in AI annehmen sollte. "Auf der NeurIPS 2018 hatten wir unseren ersten Workshop", sagt Willie. "Damals stellte uns die NeurIPS keinen Veranstaltungsort zur Verfügung, also mieteten wir ein Hotel auf der anderen Straßenseite. Wir waren auch Neulinge in der Organisation von Workshops, und es war 8 Uhr morgens am letzten Tag der Konferenz, so dass es für alle schwierig war, dort zu sein. [...] Wir hatten ein Frühstück, es gab Vortragende und wir hatten Podiumsdiskussionen. Es war wirklich aufregend, all die Leute dort zu sehen und sich durch das Hotel zu bewegen. Viele der Leute, die ich dort getroffen habe, habe ich noch Jahre später immer wieder gesehen. Es war ein sehr grundlegender Moment."

Kurz nach dem Workshop wurde der Slack-Channel ins Leben gerufen. "Das ist unsere einzige Möglichkeit zu arbeiten, da wir so weit verstreut sind." Willie breitet seine Arme aus. "Jeder ist in verschiedenen Zeitzonen und ständig mit anderen Dingen beschäftigt. Es ist ein sehr netter asynchroner Raum, in dem wir effektiv kommunizieren können." Mit diesem zusätzlichen Tool im Werkzeugkasten ging das Wachstum von Queer in AI schnell voran. 2019 fanden auf den meisten großen KI-Konferenzen Veranstaltungen von Queer in AI statt. 

Die Organisationsstruktur von Queer in AI musste sich ändern, um diesem Wachstum Rechnung zu tragen. "Wir begannen als eine kleine Standardorganisation: Es gab Vorstandsmitglieder, Präsidenten und Vizepräsidenten, eine Person für die Finanzen", sagt Willie. "Aber dann haben wir herausgefunden, dass das für unsere Arbeitsweise keinen Sinn macht. Es gibt einfach zu viele Veranstaltungen und zu viele verschiedene Menschen und Arbeitsgruppen, und es macht keinen Sinn, zu sagen, dass eine Person für alles zuständig ist. Mit Blick auf 2020 haben wir alle Rollen abgeschafft, und alle haben stattdessen nur noch die Rolle Core Organizer."

Das Fehlen hierarchischer Titeln passt besser zum weltumspannenden Charakter der Organisation und macht den Einstieg für Neulinge einfacher. "Wenn zum Beispiel jemand ein Treffen bei der Konferenz AAAI organisieren will, können wir sagen: Du kannst Geld haben, hier sind Anleitungen, hier sind Leute, die dich anleiten können, aber im Grunde kannst du machen, was du willst. Wir haben Standardverfahren und einen Verhaltenskodex, den wir von unseren Rednern erwarten. Aber nur so waren wir in der Lage, jedes Jahr mehr als zwölf Veranstaltungen auf der ganzen Welt zu organisieren." 

Für Willie ist die Dezentralisierung der Organisation eine der wichtigsten Lektionen, die er von Queer in AI gelernt hat. Man muss allen Beteiligten vertrauen und auch Spannungen aushalten können. Und eine vollständige Dezentralisierung ist nicht möglich: Organisatoren können zwar Geld anfordern, aber es muss immer noch bei Willie angefragt werden. Willies Name im Slack-Channel lautet "Willie von der Buchhaltung", eine ironische Erinnerung an dieses letzte Element einer traditionellen Struktur in einem ansonsten flachen Kollektiv. "Diese Punkte der Zentralisierung führen zu Spannungen", sagt Willie, "aber genau dort entstehen echte Einsichten und Lerneffekte".

Willie ist zwar immer noch Doktorand an der University of Washington, aber seit NeurIPS 2017 hat sich vieles verändert. Das Wachstum von Queer in AI spiegelt sich in seinem akademischen Werdegang wider: "Ich begann meine Promotion mit einer ziemlich unkritischen Sicht auf KI", sagt er. Er arbeitete an objektorientiertem Reinforcement Learning für Atari, ein Problem, das er heute als "eng und ohne Bezug zur realen Welt" sieht. "Ich war davon überzeugt, dass dies der Weg ist, um Gutes in der Welt zu tun. Ich glaube, bei vielen Leuten, die damals mit maschinellem Lernen begonnen haben, kann man immer wieder denselben Weg beobachten. Sie beginnen in einem sehr technischen Bereich und werden nach und nach zu KI-Ethikern." Während die Wurzeln, auf die sich die KI-Ethik stützt, weit in die Vergangenheit zurückreichen, ist das Feld selbst noch recht neu. Willie ist stolz auf die Rolle, die Queer in AI bei seiner Entstehung gespielt hat: das Organisieren von Workshops und das Bezahlen von Rednern. Die Arbeit von Queer in AI hat so auch immer wieder vor den Gefahren gewarnt, die für queeren Menschen von KI-Systemen ausgehen.

Willie sieht seine Forschung und sein Engagement nun in einem breiteren Rahmen, wobei sich beides auf unterschiedliche Weise überschneidet. "Die Fragen, für die ich mich jetzt interessiere sind Fragen der Datensouveränität, und sie sind definitiv von Queer in AI inspiriert", sagt er "In vielen Fällen entscheiden queere Menschen nicht, wie sie in Modellen und Datenbanken dargestellt werden. Man sollte immer in der Lage sein, seine Daten und seine Identität zu besitzen." Für seine akademische Zukunft möchte Willie auf diesem Weg bleiben: "Radikale KI-Ethik ist ein Bereich, in dem es im Moment nicht viele Leute gibt. Ein Professor zu sein, ein Labor einzurichten, einen Ort zu schaffen, an dem Doktoranden ausgebildet werden, Mentoren erhalten, gute Arbeiten schreiben können, einen Ort, an den Postdocs und Gastforscher kommen können - das wäre sehr hilfreich für die Gesellschaft. Den Professorentitel zu haben, würde es mir ermöglichen, die notwendigen Fördergelder einzuwerben.”

Die Verwirklichung dieses nächsten Schritts würde seine Forschung und Queer in AI noch näher zusammenbringen. Außerdem würde es dazu beitragen, die Organisation nachhaltiger zu machen, indem es für die freiwilligen Organisatoren lohnender wird teilzunehmen. Die Zusammenarbeit mit einem Universitätslehrstuhl bringt für viele junge Akademiker*innen einen beruflichen Nutzen: "Wir können sagen: Hier ist eine wissenschaftliche Publikation. Es passiert viel mit queeren Daten, es passiert viel mit queeren Modellen und Algorithmen, die diese Daten nutzen. Ich freue mich sehr darauf, das gesamte Fachwissen, das wir im Bereich Queer in AI haben, auf diese Probleme anzuwenden, um Rahmenbedingungen und Modelle für den Besitz von queeren Daten zu entwickeln, und wie die Verwaltung von queeren Datenkollektiven aussehen könnte. Das sind Probleme, auf die ich sehr gespannt bin."

Queer in AI ist nicht nur ein Dreh- und Angelpunkt für seine Forschung, sondern erfüllt auch andere Funktionen in Willies Leben. Die Organisation ist aus einem Gefühl der Isolation heraus entstanden, vor allem als er von der Georgia Tech kam, wo Willie nicht viele queere Menschen kannte und wo es keine offen queeren Professoren gab. Er hofft, dass Queer in AI für queere Menschen, die in die KI-Branche einsteigen, die Ressource sein kann, die er als junger Akademiker vermisst hat. "Eine weitere wichtige Sache ist, dass es mich auf dem Boden der Tatsachen hält", sagt Willie. “Die KI-Branche ist ein wilder Ort. Start-ups geben 10 Millionen Dollar aus, um ein etwas besseres Modell zu entwickeln und glauben, dass es die Welt revolutionieren wird. Vor allem, wenn man in unsere Hilfsprogramme involviert ist, sieht man: schon 500 Dollar können das Leben einer Person verändern. Es wird ihr ermöglichen, sich an einer tollen Hochschule zu bewerben und dort aufgenommen zu werden. Wenn man sich auf diese Summe und diese Art von Hilfe einlässt, wird einem klar, wie seltsam manche Dinge in der KI sind. Ich bin sehr dankbar dafür, dass zumindest ein Teil von mir in der realen Welt bleibt."


Mehr zu William Agnews Forschung findest du hier.